Diagnose: Funk org – Magazins kompakt 2021-2 – 17May2021
Im Widerspruch zur Wissenschaft
Schweiz: Grenzwerterhöhung durch die Hintertür
Das Schweizer Bundesamt für Umwelt (BAFU) veröffentlichte kürzlich eine Ergänzung zur „Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung“ (NISV). Sie soll den kantonalen Vollzugsbehörden aufzeigen, wie die Strahlung der neuen adaptiven Beamforming-Antennen prognostiziert, gemessen und im laufenden Betrieb kontrolliert wird.

Es ist wichtig zu wissen, dass adaptive Antennen zur Optimierung der Übertragungsrate bevorzugt mehrere Verbindungswege mittels Reflexionen an räumlichen Gegebenheiten nutzen. Eine ausschließlich direkte Sichtverbindung, ohne Nutzung mehrerer Reflexionswege, ist eher nachteilig und deshalb unerwünscht. Ferner erkundet die sogenannte adaptive MIMO Technik andauernd die Verbindungswege mittels Synchronisationssignalen zwischen Sender und Empfänger. Diese müssen natürlich kontinuierlich erkundet werden, da der Empfänger sich bewegen kann. Standardmäßig erfolgt das alle 20 Millisekunden beziehungsweise mit einer Frequenz von 50 Hertz.
Folglich entsteht in einem urbanen, bebauten Gebiet mit zahlreichen reflektierenden Oberflächen aus den Daten-Beams und Pilotsignalen ein Strahlungsnebel, der kaum voraussagbar und variabel ist.
Die abgestrahlte Sendeleistung einer Antenne kann über die Reflexionswege viel höher sein, als diejenige über eine direkte Sichtverbindung. Dazu kommt die mehrfache Bestrahlung von Personen durch viele reflektierte Beams. Es ist offensichtlich, dass die Vorstellung und weitverbreitete Meinung von einem zielgerichteten Beam zwischen Basisstation und Endgerät (siehe Grafik) falsch ist.
Anders als es derzeit von Bundesbehörden dargestellt wird, sind sogar Extrembelastungen möglich. Erklärte Absicht der Mobilfunkbetreiber ist es nämlich, Gebäude mit den starken Beams zu durchdringen, um so das Festnetz und WLAN vermehrt zu konkurrenzieren. So kann die Situation entstehen, dass Nutzer stundenlang TV schauen oder online spielen und ihre Nachbarn dadurch massiv zwangsbestrahlen. Bekanntlich werden heute über 70% des gesamten Datenvolumens stationär für Videoinhalte genutzt und meist über WLAN und Festnetze verbreitet. Die 5G-Betreiber wollen sich dieses Datenvolumen zukünftig auf ihre Mobilfunknetze holen.
Belastungen bis 33 V/m möglich
In der Schweiz ist die Belastung am Ort mit empfindlicher Nutzung (OMEN) maßgebend. Dazu gehören Orte wie Wohnungen, Spitäler, Arbeitsplätze oder Kindergärten. Ob die Gesamtbelastung durch adaptive Antennen an bestimmten OMEN oder auf der grünen Wiese im Durchschnitt vielleicht etwas abnimmt, ist für diese Betroffenen nicht relevant.
Neu ist, gemäß Vollzugsempfehlung des Bundesamts für Umwelt (BAFU), die Messmethode für konventionelle Antennen auf adaptive Antennen zu über-tragen, was eine grobe Vereinfachung komplexer Ge-gebenheiten bedeutet. Dadurch können Messtechniker bei Abnahmemessungen fast ausnahmslos nur einen Bruchteil der realen Strahlenbelastung tatsächlich erfassen. Das BAFU formuliert nun neue Anforderungen an das sogenannte Qualitätssicherungssystem (QS) der Kantone und an den Einsatz einer Software zur automatischen Leistungsbegrenzung. Neu soll zudem eine bis zu 10 mal größere effektive Sendeleistung als bewilligt zugelassen werden. Die OMEN können so statt mit max. 6 V/m neuerdings mit bis zu 19 V/m bestrahlt werden. Und im Umfeld von drei Antennen sind sogar Belastungen bis 33 V/m möglich.


Außerdem wird nicht mehr der Effektivwert der Feldstärke gemessen, sondern der Mittelwert über 6 Minuten, was eine weitere Lockerung der Grenzwertregelungen darstellt. In der NISV wird bezüglich den Anlagegrenzwerten ausdrücklich auf Effektivwerte hingewiesen (NISV Art. 64, Anhang 1). Effektivwerte können maximal über die Pulsdauer (< 1 Sekunde) gebildet werden. In Fällen wo die NISV Mittelwerte vorsieht, wird ausdrücklich darauf hingewiesen (z. B. bei den Immissionsgrenzwerten, NISV Art. 22, Anhang 2). Die neue Vollzugsempfehlung ist somit nicht NISV konform und der Widerspruch zu bisherigen Bundesgerichtsentscheiden und kantonalen Vollzugspraktiken ist offensichtlich.
Mit 150 km/h durch das Wohngebiet
Analog wäre das so, wie wenn man die maximal zulässige Höchstgeschwindigkeit auf Straßen nicht jederzeit, sondern über 6 Minuten gemittelt einhalten müsste, was einen kurzen Spurt mit 150 km/h durch eine Wohnstraße zulassen würde.
Auch neuerdings empfohlene Korrekturfaktoren, mit Bezug auf die Eigenschaften von Antennen, sind äußerst suspekt. Das bedeutet, dass das BAFU für verschiedene Antennentypen unterschiedliche Beurteilungskriterien empfiehlt. Um beim Vergleich mit dem Auto zu bleiben, kann man sich vorstellen, dass für bestimmte, leistungsfähigere Autos höhere Tempolimits dank „Korrekturfaktoren“ zulässig wären, womit der Schutz der Verkehrsteilnehmer vom gefahrenen Autotyp abhängig würde. Ob eine derartige Vollzugsempfehlung rechtskonform ist, darf bezweifelt werden. Einerseits gibt es Widersprüche zur geltenden NISV wie auch zum Umweltschutzgesetz. Zudem werden Bundesgerichtsentscheide über die Festlegung der Grenzwerte und auch diesbezügliche Entscheide des Bundesparlaments ignoriert. Es ist auch kaum zu erwarten, dass eine derartige Grenzwerterhöhung durch die Hintertür von der Bevölkerung gutgeheißen wird. Gemäß Digitalbarometer der Mobiliar-Versicherung 2020/21 votieren 85% der Bevölkerung gegen eine Lockerung der Grenzwerte und 57,5% wünschten sogar eine Verschärfung der Strahlungsgrenzwerte, um gesundheitliche Risiken zu vermeiden.
Im Widerspruch zur Wissenschaft
Ein großer Widerspruch ist auch der Umstand, dass fast gleichzeitig zur fragwürdigen Vollzugsempfehlung des BAFU, die beratende Expertengruppe für nicht-ionisierende Strahlung (BERENIS) der Bundesregierung einen Sondernewsletter zur aktuellen NIS Forschungslage veröffentlichte. Darin wird erstmalig offiziell auf den Umstand hingewiesen, dass bereits Bestrahlungen innerhalb bestehender Grenzwerte für bestimmte Bevölkerungsgruppen “körpereigene Systeme“ aus dem Gleichgewicht bringen können. In Bezug auf Personen mit Diabetes, Immunschwächen, Alzheimer und Parkinson erkennt die BERENIS: «[…]es ist daher zu erwarten, dass bei Individuen mit solchen Vorschädigungen vermehrt Gesundheitseffekte auftreten.» Ferner ist zu lesen: «Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Mehrzahl der Tierstudien und mehr als die Hälfte der Zellstudien Hinweise auf vermehrten oxidativen Stress durch HF-EMF und NF-MF gibt. […], auch im Bereich der Anlagegrenzwerte.» Oxidativer Stress führt zu diversen Beschwerden, von Erschöpfung über chronische Entzündungen bis hin zu schwerwiegenden Erkrankungen. Und dies schon bei den Anlagegrenzwerten (AGW), welche in der Schweiz typischerweise bei 6V/m angesetzt sind.
Der Hinweis der BERENIS, dass es bereits im Bereich der AGW zu erhöhtem oxidativen Stress kommen kann, legt nahe, dass diese Belastung in jedem Fall zu vermeiden ist und die Immissions- und Anlagegrenzwerte entsprechend zu verschärfen und keinesfalls zu lockern sind.
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